Überlegungen zu den Begriffen "natürlich" und "unnatürlich"

Die Tierrechtler scheinen davon überzeugt zu sein, dass natürliche Umweltfaktoren das Wohlergehen von Tieren prinzipiell fördern, während unnatürliche Umweltfaktoren für Tiere immer unangenehm und schädlich sind. Dabei verstehen sie offensichtlich unter "natürlich" alles, was ohne Mitwirkung des Menschen zustande kommt, und unter "unnatürlich" alles, was vom Menschen ausgeht oder irgendwie vom Menschen beeinflusst wird. Nachfolgend soll untersucht werden, ob diese Sichtweise den Tatsachen entspricht.

Als erstes Beispiel möge ein vollständig natürlicher Vorgang dienen, der sich regelmäßig im Ökosystem des Serengeti-Nationalparks und des Masai-Mara-Reservats in Ostafrika abspielt. Die dort lebenden Gnu- und Zebraherden müssen bei ihren Wanderungen zweimal im Jahr den Mara River durchqueren - ein äußerst beschwerliches und gefährliches Unterfangen. Nicht genug, dass das Flussbett an vielen Stellen von Steilufern eingefasst ist, an denen die Tiere häufig abrutschen und sich Verletzungen zuziehen, im Fluss lauern auch noch zahlreiche Krokodile, die, völlig ausgehungert, schon auf das Eintreffen der Herden gewartet haben. Szenen unvorstellbarer Grausamkeit spielen sich ab. In einem Youtube-Video ist zu sehen, wie ein Zebra einem Krokodil nach erbittertem Kampf entrinnen kann und mit letzter Kraft das rettende Ufer erreicht. Der Betrachter atmet auf! Doch das Zebra bleibt am anderen Ufer regungslos stehen, während seine Artgenossen davonstürmen. Kurz darauf fallen dem Zebra die Eingeweide aus dem Bauch, offenbar hat das Krokodil die Bauchdecke des Zebras aufgeschlitzt, mehrere Krokodile kriechen an Land, um die Eingeweide aufzufressen, das Zebra schaut noch einen Augenblick zu, bevor es tot zusammenbricht. Trotz dieser Gefahren müssen die Zebras und die Gnus die Überquerung des Flusses auf sich nehmen, weil sie nur so zu den frischen Weidegründen auf der anderen Seite gelangen können. Auch die Krokodile befinden sich in einer wenig beneidenswerten Lage. Wenn es ihnen nicht gelingt, in einer Saison genug Beute zu machen, werden sie die Zeit bis zur Rückkehr der Herden nicht überstehen. Selbstverständlich hat die Natur auch Angenehmes zu bieten. So dürften die Gnus und die Zebras die Strapazen der Flussdurchquerung angesichts des reichhaltigen Graslandes auf der anderen Seite schnell vergessen haben.

Wie sieht es nun bei Tieren aus, die in Menschenobhut leben, z. B. in einem guten Zirkus. Nach Meinung aller Wissenschaftler, die sich mit dem Thema "Zirkustiere" beschäftigt haben, wirkt sich der enge Tier-Mensch-Kontakt einschließlich des Trainings in der Manege grundsätzlich positiv auf das Gesamtbefinden der Tiere aus - und dies, obwohl es sich um einen Umweltfaktor handelt, der nach obiger Definition unnatürlich ist. Das gleiche gilt für die tierärztliche Versorgung, die in einem guten Zirkus sichergestellt ist. Natürlich kann es in einem Zirkus auch Umwelteinflüsse geben, die den Tieren schaden, z. B. dann, wenn der Tierlehrer das nötige Einfühlungsvermögen für seine Schützlinge vermissen lässt und sie z. B. über- oder unterfordert.

Fazit: Es gibt sowohl unter den natürlichen, als auch unter den unnatürlichen Umweltfaktoren (nach obiger Definition) solche, die den Tieren guttun, und solche, die den Tieren nicht guttun. Die einfache Schwarzweißmalerei der Tierrechtler, nach der alles Natürliche gut und alles Unnatürliche schlecht ist, geht offensichtlich an der Realität vorbei. Dies ist übrigens auch der Grund, warum das Ideal bei der Gestaltung von Zoogehegen nicht darin besteht, die Natur 1 : 1 nachzubilden, sondern darin, Verhältnisse zu schaffen, die den Tieren alles bieten, was sie für ein zufriedenes Leben brauchen.

Wer diese Zusammenhänge verstanden hat, wird die Parolen der Tierrechtler besser beurteilen können und die Tierhaltung in Zirkus, Zoo und Delfinarium mit anderen Augen sehen.

Dirk Candidus (August 2019)